VISUAL PROMPT

by Oleksandra Barba @ Unsplash

This is your scene. What's the story?

Die Puppe

Solange ich lebe, habe ich immer nur meine Schwester mit ihrer Puppe gesehen. Meine Schwester ist fünf Jahre jünger als ich, und seitdem sie zu ihrem zweiten Geburtstag die Puppe geschenkt bekommen hatte, lief sie damit herum.


Sie kleidete sie. Sie entkleidete sie. Sie kämmte ihr die Haare, sie wusch sie mit einem kleinen Lappen immer wieder ab und wusch auch ihre Wäsche, wann immer sie konnte.


Meine Schwester führte intensive Gespräche mit der Puppe, setzte sie an Tische, ließ sie Tassen halten und sprach beständig auf sie ein. Erst in einem kleinkindlichen Gebrabbel, das außer ihr niemand verstehen konnte. Später dann, mit einer etwas elaborierteren Sprache, gab sie ihr zuerst einfache Befehle und unterhielt sich dann mit ihr über alle möglichen Themen, wie das Wetter, ihre Freunde oder Probleme, die sie mit den Eltern hatte.


Immer wenn ich an meine Schwester denke, dann sehe ich sie mit ihrer Puppe. Kein Bild in meiner Erinnerung ist ohne die beständige Begleitung meiner Schwester durch ihre Puppe.


Noch intensiver wurde ihre Beziehung zu der Puppe und ihre Abkehr von allen anderen Dingen, als wir ins Heim kamen.


Unsere Eltern gingen einfach verloren, spurlos und man wusste nicht, was mit uns tun, da wir keine anderen Verwandten kannten und hatten.


Die Eltern kamen einfach nicht wieder. Sie sagten uns Gute Nacht, sie brachten uns zu Bett, und wir schliefen ein und am nächsten Tag waren die Eltern nicht mehr da und wir wussten nicht, was wir tun sollten. Also, ich wusste nicht, was ich tun sollte, denn meine Schwester verließ sich ganz auf ihre Puppe.


Wir suchten sie überall, aber sie blieben verschwunden.


Später konnte man die Geschehnisse so weit rekonstruieren, dass die Eltern wohl noch in eine nahe gelegene Kneipe gegangen waren und ziemlich stark getrunken hatten. Sie verließen dann aber das Lokal, und von da an weiß niemand mehr, was mit ihnen geschah und sie kamen auch nie wieder.


Ich weinte sehr viel in dieser Zeit und umarmte dabei meine Schwester, die wiederum ihre Puppe umarmte. Und so gaben mir die beiden den Halt, den ich brauchte, um weiterhin für meine Schwester da sein zu können.


An die Zeit im Heim erinnere ich mich kaum noch. Ich weiß noch, dass ich mich öfters schlagen musste und ich die Kämpfe nicht immer als Gewinner verließ. Aber auch wenn ich der Gewinner war, wurde ich natürlich immer bestraft und verbrachte viel Zeit in einem dunklen, fensterlosen Raum ohne Einrichtungsgegenstände, damit man mir diese „Flausen“ austreiben konnte.


Meistens schlief ich dann in der Dunkelheit vor lauter Wut und Trauer auf dem Boden ein.


Als ich eines Tages nach einem dieser Aufenthalte in der dunklen Kammer wieder zurück an das Licht kam, war meine Schwester nicht mehr da. Auf ihrem Bett saß nur noch ihre Puppe und starrte, wie ich fand, hilflos und nutzlos, jetzt ohne die Schwester, in die Gegend


In der darauf folgende Nacht stahl ich die Kamera eines Kameraden und fotografierte die Puppe auf dem Bett. Das einzige Foto, was ich von meiner Schwester die ich nie wieder gesehen habe, machen konnte. Denn in meiner Erinnerung wurden im Laufe der Jahre meine Schwester und die Puppe eins.


Ich nahm den Film aus der Kamera, verließ das Heim und lief weg.


Heute 60 Jahre nach dem Verschwinden meiner Schwester, schreibe ich dies auf, denn nun werde auch ich mich ans Verschwinden machen. Die Zeit, die eigentlich im Alter immer schneller verstreichen sollte, wird mir immer länger in meinem Alleinsein, hier in einem Heim für ältere Menschen, in dem ich sitze und immer nur in Erinnerungen schwelge, die mich nicht glücklich machen.

Comments 0
Loading...